Drahtseilbahn zum Reichenbachfall, Meiringen

 

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewann Meiringen im Berner Oberland für den aufkommenden Tourismus immer mehr an Bedeutung, nicht zuletzt wegen den in dieser Gegend spektakulären Naturwundern, die jährlich tausende von Besuchern anlockten. Neben der berühmten Aareschlucht waren es vor allem auch die tosenden Reichenbachfälle, welche die Touristen in ihren Bann zogen. Die Wasserfälle waren aber nur schwer zu erreichen und so entstand die Idee, dieses Naturspektakel mit einer Drahtseilbahn für jedermann zugänglich zu machen. Initiant dieses Vorhabens war der Ingenieur, Bauunternehmer und Hotelier Elias Flotron-Willi in Meiringen-Willigen. In der Person von Franz Josef Bucher-Durrer, dem bekannten Bahnbauer und Hotelkönig aus Kerns, fand er einen finanzkräftigen und kompetenten Partner für sein Projekt. Nachdem der Bundesrat am 1. Juli 1896 den Initianten die Konzession für eine Drahtseilbahn zum obersten Reichenbachfall erteilt hatte, konnte mit dem Bahnbau unverzüglich begonnen werden. Den Auftrag zum Bau der Bahn erhielt die Unternehmerfirma Bucher & Durrer, leitende Ingenieure waren Elias Flotron und Alfred Bucher-Heggli, der Sohn von Franz Josef Bucher, und für den seilbahntechnischen Teil zeichnete die Giesserei Bern der Ludwig von Roll' schen Eisenwerke verantwortlich. Nach der Kollaudation am 3. Juni erfolgte die offizielle Eröffnung der Reichenbachfallbahn am 8. Juni 1899. Aus der Verbindung von Flotron mit Bucher entstand im Jahre 1900 neben der Drahtseilbahn mit der Zentrale Schattenhalb auch ein erstes Kraftwerk am Reichenbach.

Nach anfänglichen Gewinnen während den ersten zwei Betriebsjahren begannen sich die finanziellen Probleme ab 1901 zu häufen, was schliesslich zur Zwangsversteigerung der Bahn im Dezember 1904 führte. Als Eigentümer des gesamten Obligationenkapitals erhielt Franz Josef Bucher den Zuschlag und zudem wurde ihm später die Betriebskonzession per 1. April 1905 übertragen. Damit fingen die Probleme aber erst an. Die Betriebsaufnahme der Saison 1905 wurde immer wieder verzögert, da zwischen Bucher und Flotron ein grosser Streit um die Bahn und um ihre gemeinsame Kraftwerksgesellschaft entbrannt war. Auf Druck des Bundesrates, der den beiden eine letzte Frist bis zum 1. Aug. für die Betriebsaufnahme setzte, kam schliesslich ein Pachtvertrag zu Stande, der Flotron den Bahnbetrieb für die laufende Saison übertrug. Dieser Vertrag wurde für die Jahre 1906 und 1907 erneuert, da Bucher und Flotron nun gemeinsam unter Druck kamen und ihnen vom Post- & Eisenbahndepartement ein strafrechtliches Verfahren angedroht wurde. Am 6. Okt.1906 starb Franz Josef Bucher in Kairo an den Folgen einer Lungenentzündung und Elias Flotron musste sich von seinen Lebenswerken am Reichenbach trennen, nachdem seine Familie in den Strudel des Konkurses der Firma seiner Schwiegermutter Anna Willi-Balmer geriet.

Nach diesen Turbulenzen wurde die Bahnkonzession auf Arnold Bucher-Berner, den Sohn von Franz Josef Bucher, übertragen. Die folgenden Jahre verliefen im Gegensatz zu den vorangegangenen vergleichsweise ruhig, bis der erste Weltkrieg den Betrieb zum Erliegen brachte. Nach dem Krieg verkaufte Adèle Bucher-Berner, die Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Mannes Arnold, die Bahn an die Elektrowerke Reichenbach AG, die den Betrieb nach achtjährigem Unterbruch im Jahre 1922 wieder aufnahmen, nachdem ihnen auch die Betriebskonzession übertragen wurde. Im Jahre 1926 erstellten Die Elektrowerke etwas unterhalb der Bergstation die Kraftwerkzentrale Schattenhalb II. Praktisch die gesamten Material- und Personentransporte zur Baustelle wurden mit der Standseilbahn abgewickelt. Auch heute noch gibt es zu diesem Kraftwerk nur die Bahnzufahrt, was vermutlich auch der Hauptgrund ist, weshalb diese Drahtseilbahn heute überhaupt noch existiert.

Im Winter 1930/31 wurde die Antriebsanlage erstmals vollständig erneuert und im Jahre 1957 wurde mit dem Einbau eines Drehstromnebenschlusskollektormotors und einer neuen Steuerung die Anlage automatisiert, so dass auf den Maschinisten in der Bergstation verzichtet werden konnte. Die Fahrbefehle konnten von nun an direkt vom Wagen I aus mit Hilfe des Kontaktstabes und der dem Bahntrasse entlang verlaufenden Leitung an die Steuerung übertragen werden. Nach einer Gesamtinspektion der Reichenbachfallbahn durch das Bundesamt für Verkehr im Sommer 1998 zeigte sich, dass die Bahnanlage in verschiedenen Bereichen saniert werden muss. Den wohl grössten Erneuerungsaufwand verursachten die zwei Seilbahnwagen, da man feststellen musste, dass der Zustand der Holzaufbauten eine Renovation nicht mehr zuliess und daher nur ein Neubau in Frage kommen konnte. In Zusammenarbeit mit der kantonalen Denkmalpflege und mit Hilfe von alten Fotografien wurden die Wagenkasten originalgetreu rekonstruiert, so dass sie sich heute wieder im Ursprungszustand von 1899 befinden. Gleichzeitig überholte die Firma Von Roll in Thun die beiden Fahrgestelle, die somit nach über 100 Jahren mit nur geringfügigen Modifikationen weiter im Einsatz blieben. Ein nächster Sanierungspunkt betraf die grosse Bogenbrücke über den Reichenbach und im Winter 2003/04 wird die Anlage mit einer neuen Steuerung ausgestattet. Damit ist die Reichenbachfallbahn wieder fit für viele weitere Jahre und die Besucher der spektakulären Wasserfälle dürfen sich noch lange an der nostalgischen Drahtseilbahn erfreuen.

Technische Daten der Reichenbachfallbahn (Stand 1999):

 Erbaut durch  Giesserei Bern der L. von Roll' schen Eisenwerke
 Inbetriebnahme  8. Juni 1899
 Bahnlänge  714 m
 Horizontale Länge  662 m
 Höhe Talstation  603 m.ü.M.
 Höhe Bergstation  847 m.ü.M.
 Höhendifferenz  244 m
 Neigung minimal  25 %
 Neigung maximal  61,7 %
 Spurweite  1000 mm
 Schienenhöhe  125 mm
 Schienengewicht  20 kg/m
 Breite Trasseekrone  1,5 m
 Kurvenradien Ausweiche  150 / 154 m
 Kurvenradien Bahnachse  200 / 400 m
 Zugseil  ø 27 mm, 2,39 kg/m, 384 kN Mindestbruchlast
 Triebrad (Bergstation)  Rillendurchmesser 2965 mm, 15,6 U/min.
 Gerade Seilrollen  ø 300 mm, 67 Stück
 Schiefe Seilrollen  ø 390 mm, 62 Stück
 Fahrzeuge  2 zweiachsige Wagen à 24 Pers.
 Wagenleergewicht  3850 kg
 Fahrgeschwindigkeit  2,0 m/sek.
 Antrieb  Drehstromnebenschlusskollektormotor 5 - 50 PS
 Förderleistung  120 Pers./h

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Abb.1: Der einfach gehaltene, halboffene Holzbau der Talstation. Von 1912 bis 1956 war die Reichenbachfallbahn vom Bahnhof Meiringen aus mit der Trambahn "Meiringen - Reichenbach - Aareschlucht" zu erreichen. Seither übernimmt diese Aufgabe ein Autobus. Abb.2+3: Seilbahnwagen in der Talstation. Die Fahrzeuge wurden im Laufe der Zeit im Bereich der Plattformen umgebaut; heute präsentieren sie sich wieder im Originalzustand von 1899. Abb.4: In einem Geländeeinschnitt vor der Ausweichstelle. Abb.5+6: Im Gummli befindet sich die Kreuzungsstelle, die "automatisch" nach dem bekannten System Abt funktioniert.

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Abb.7: Die drei Abteile der Wagen bieten Sitzplätze für je acht Personen; die Wagenführer verrichten ihre Arbeit jeweils auf der in Fahrtrichtung vorderen Plattform. Die Fahrzeuge sind mit im Falle eines Seilbruches selbsttätig wirkenden Schienenzangenbremsen des Systems Bucher & Durrer ausgestattet. Abb.8: Die grosse Bogenbrücke über den Reichenbach wie auch die übrigen vier kleineren Brückenbauwerke wurden 1898 von der Basler Firma "Alb. Buss & Cie. Brückenbau und Eisenconstruktions-Werkstätte" erstellt. Abb.9: Die 1926 erbaute Kraftwerkzentrale Schattenhalb II, die nur durch die Bahn erschlossen ist. Abb.10: Auf dem letzten Streckenstück vor der Bergstation, wo bereits der grosse Reichenbachfall erkennbar wird. Rechts neben dem Bahngleis liegt die Druckleitung des Kraftwerkes Schattenhalb I. Abb.11+12: Einfahrt in die Bergstation.

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Abb.13-15: Die Bergstation, welche regelrecht am steilen Hang "klebt", besteht aus dem Maschinenhaus mit einem Warteraum und der hölzernen Einfahrhalle, die den Fahrzeugen Schutz vor der Witterung bietet. Abb.16+17: Blick in den Maschinenraum mit dem wuchtigen, dreirilligen Triebrad. Weiter sind der Antriebsmotor, das Reduktionsgetriebe und die Bremseinrichtungen zu erkennen. Abb.18: Der Steuerstand, der sich ebenfalls im Maschinenraum befindet und dahinter das Spindel-Kopierwerk, an welchem sich die jeweilige Position der Fahrzeuge auf der Strecke an zwei Wagenschlitten, die durch Gewindespindeln bewegt werden, ablesen lässt. Diese Einrichtung wird mittels Steuerschalter auch zur Überwachung der Fahrt beigezogen.

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Abb.19: Gegeneinander schräg gestellte Seiltragrollen im Bereich der Ausweichstelle. Abb.20: Altes Von Roll-Firmenschild in der Bergstation. Abb.21: Diese Aufnahme aus den 40er-Jahren zeigt einen Wagen auf der grossen Bogenbrücke über den Reichenbach. Abb.22: Plakat der Reichenbachfallbahn um 1900. Damit sollte auch auf die nächtliche Beleuchtung des Wasserfalles in verschiedenen Farben aufmerksam gemacht werden.

Fotos: 1 - 20: C. Gentil, 21+22 aus: "Drahtseilbahn zum Reichenbachfall" von P. u. R. Werren, Seilbahnverlag Werren.

Infos und weitere Bilder über die Reichenbachfallbahn: www.reichenbachfall.ch


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